Der Dickkopf und das Peterlein ( 5 )
Und er nahm den Schinken
unter den Arm, setzte die Mütze auf und ergriff das Bäumchen mit
beiden Händen unten am Stamm. Die Verkäuferin öffnete die
Tür. "Gute Nacht!" "Gute Nacht!"
Langsam und vorsichtig ging das Peterlein die nächste Gasse hinab. Bei
jedem Schritt schlugen die Glasglöckchen an und klirrten leise. Es war
finster zwischen den hohen Mauern, denn diese hatten keine Fenster, und die
einzige Gaslaterne brannte unten am Ausgange der Gasse. Wer oben stand und
hinunterschaute, sah nichts, aber hörte, wie die geheimnisvollen Stimmlein
des Weihnachtsbäumchens die Gasse hinunterschwebten. Jetzt hörte das
Klirren auf, denn das Peterlein war stehen geblieben: der Schinken wollte ihm
hinunterrutschen. Das Peterlein bückte sich, stellte das Bäumchen auf
den Boden und schob den Schinken in die Achselhöhle hinauf. Dann ergriff
er das Bäumchen wieder mit beiden Händen und ging sachte, sachte
weiter. Der Dickkopf wohnte zum Glück ganz nahe. Er hauste in der
Gerbergasse. Die hatte keine Hausnummer; rechts war sie von einer Fabrikmauer
begrenzt, links von den Hinterhöfen und Lohkammern einer weitläufigen
Gerberei. In einer der Speicher, zu denen die Höfe führten, wohnte
der Dickkopf.
Der Knabe hielt vor dem Hoftorpförtchen. Es stand auf. Der Kettenhund
knurrte, aber die Kinderschritte mochten ihn beruhigt haben: er legte sich
wieder in seine Hütte.
Mitten über dem Hof hing eine düster brennende Laterne. Ihr schein
beleuchtete eine schmale steinerne Treppe, die zu dem gegenüberliegenden
Gebäude führte. Das Peterlein stieg langsam die Stufen hinauf und
stand vor einer schwarzen Wand. Es stellte den Weihnachtsbaum neben sich auf
die Schwelle und suchte mit den Händen in der Höhe. Jetzt hatte es
die Klinke gefunden. Auch diese Tür war unverschlossen. Das Peterlein
drückte sie auf, dann nahm es sein Bäumchen und trat in den Flur.
Dicht neben der Tür hockte es sich auf den Boden und ließ den
Schinken, der schön in blaues Packpapier eingewickelt war, in den Winkel
gleiten; dann richtete es sich auf und ging rascher den dämmrigen Gang
hin. Am Ende des Ganges hing eine Ampel an der Wand. Dort ging's um die Ecke.
Das Licht erhellte eine hölzerne Stiege. Das Peterlein eilte hinauf, so
rasch es konnte, und stand in einem weiten Speicherraum. Zur rechten Hand waren
einige unter das Dach gezimmerte Kammern, und eine der Wand hängende
Sturmlaterne lud ein, dorthin zu gehen. Das Peterlein schlich jetzt auf den
Zehen. Vor der Tür, neben der die Laterne hing, blieb es stehen und las
auf einer rosenroten Visitenkarte:
Dickkopf
Kommisionär.
Das Peterlein lächelte vergnügt, ging mit seinem Bäumchen hinter
einen Kamin, wo Schutz vor dem Luftzug war, stellte das Bäumchen auf den
Boden, in die Nähe von einem Haufen zerbröckeltem Lohkäse, holte
ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete die Lichtchen an.
Der Dickkopf saß in seinem Zimmer und war in eine schriftliche Arbeit
vertieft. Er saß auf einem blaugeblümten Sofa vor einem kleinen
hölzernen Tisch. Vor ihm lag ein Bogen Briefpapier. Links oben, über
den Worten "Geehrtes Fräulein Edith!" war eine rote Marke
für die Antwort aufgeklebt.
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Adolf Schmitthenner 1854 - 1907
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