Die Geschichte vom Tannenbäumchen ( 2 )
Nicht einmal vor der Sonne vermag der
einfältige Tannenbaum zu schützen." "Ja, ja", fing nun
ein dicker Apfelbaum an, "mit uns kann sich der arme Tropf freilich nicht
messen. Was mich aber am meisten verdrießt, dies ist, dass man die langen
Zapfen, welche der Herbstwind von ihm herunterschüttelt und die weder
für Mensch, noch Tier genießbar sind, Tannäpfel nennt, als ob
sie auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit meinen schmackhaften
Früchten hätten; es ist wirklich zu arg!"
Dabei schüttelte der alte Herr sein Haupt so gewaltig, dass dicke
Blütenflocken zur Erde fielen und einzelne an den Nadeln des armen
Tannenbäumchens hängen blieben.
"Seht, wie er sich jetzt auch noch mit fremden Federn schmückt!"
schrie ein naseweiser, junger Pflaumenbaum; "Der Unverschämte, er
glaubt, weil er spitze Nadeln habe dürfe er uns allen trotzen!"
Und nun fingen alle Bäume zugleich an, auf die arme Tanne zu schelten, und
lobten dabei unaufhörlich ihre eignen Früchte, sowie den Nutzen, den
diese brächten. Selbst die Johannis- und Stachelbeerbüsche blieben
nicht still und Niemand wollte dem bescheidenen Tannenbäumchen das
mindeste Gute zuerkennen.
Drüben über dem Bach war ein Wald voll schöner Buchen und
Eichen; auch diese fingen an mitzuspotten und sich hervorzutun. Eine dicke
Buche überschrie zuletzt alle und rief: "Wenn wir auch keine so
süßen Früchte tragen, wie der liebe Kirschbaum und der
vortreffliche Apfelbaum, so sind wir doch gleichfalls von dem
allergrößten Nutzen. Im Sommer geben wir kühlen,
prächtigen Schatten und im Winter heizen wir die Zimmer ein, wenn es
draußen stürmt und schneit, denn wir haben gutes, festes Holz, aber
selbst das Holz der hässlichen Tanne ist elendes Zeug, macht schwarz und
rußig und gibt keine Wärme. Nebenbei sind unsre kleinen Früchte
auch gar nicht zu verachten; die Buchecker glänzen zwar
äußerlich nicht durch ihre Schönheit, aber man presst gutes,
fettes Öl daraus, in dem man Pfannkuchen und Kräppeln backen kann,
die sehr gut zu den gekochten Kirschen und Pflaumen schmecken!"
"Nun, bist Du bald fertig?" fing eine Eiche neben ihr an, "Du
tust, als ob Du der erste Baum im Walde wärest. Mich lasse reden. Ich bin
die deutsche Eiche und ein poetischer Baum. Wo es irgend ein Fest gibt, macht
man aus meinen Blättern Kränze, ich komme in Millionen Gedichten vor
und mein Laub wird überall hingestickt, in Gold, Seide und Perlen. Was nun
den Nutzen betrifft, so ist der meinige ohne Widerrede der bedeutendste. Mit
meinen Eicheln mästet man Schweine und es gibt verständige Leute
genug, die essen lieber ein gutes Stück Schweinebraten, als Kirschen und
Birnen und wie all das süße, kraftlose Zeug heißt, mit dem Ihr
so gewaltig groß tut!" Nachdem die Eiche dies gesprochen hatte,
fächelte sie sich mit ihren Zweigen, hob stolz den Wipfel empor und sah
sich um, als wolle sie fragen: "Wagt es noch Jemand etwas zu sagen?"
Wahrhaftig, die deutsche Eiche hatte mehr Mut, als gewöhnlich ein
deutscher Mensch. - Die anderen Bäume blieben auch ganz still und keiner
muckte, bis endlich eine schlanke, grüne Linde sich zu regen begann und
leise säuselte: "Ei, ei, Ihr lieben Freunde! am Ende bin ich doch
noch die wichtigste von Euch allen, wenn meine Blüten auch sehr klein und
unscheinbar und fast nur durch ihren süßen Duft bemerkbar ist.
________________
Luise Büchner 1821 - 1877
________________
Weihnachten.mobi ist eine Textsammlung.
Aktueller Seitenbereich: Weihnachtsmärchen - Die Geschichte vom Tannenbäumchen
________________
copyright by Camo & Pfeiffer