Weihnachten im Sommer ( 2 )
Die Stunde des Konzerts ist da. Onkel Hermann hat den ganzen Tag besonders
schlau ausgesehen. "Wenn du schön singst", sagt er,
"erlebst du heute etwas, was du noch nie erlebt hast."
Die Stadt ist voller Unruhe. Kleine landsche Equipagen rasseln durch die
Straßen, große Kutschen kommen von den Gütern, fahren
schwerfällig über das holprige Pflaster. Jeder aus dem kleine
Stadtchen rüstet sich zum Konzert.
Ich gehe noch einmal durch den Garten an Onkels Arm, wir sind beide still. In
mir singen und klingen schon all die Lieder aus dem Programm, und ein
Gefühl von festlicher Freude erfüllt mich.
Da bricht Onkel das Schweigen: "Weißt du, dass du von Gott besonders
begnadet bist, dass du singen kannst?" sagt er.
"Ja, ich weiß es".
"Dein ganzes Leben muss ein Dank dafür sein", sagt er,
"vergiss es nicht."
Ich nehme seine alte liebe Hand in die meine und küsse sie. Dann gehen wir
in die Kirche. Sie ist dicht gefüllt, Kopf an Kopf gedrängt sitzen
die Zuhörer da; alles ist voll Andacht und Feierlichkeit. Ein
Orgelpräludium braust durch den Raum, dann wird es still, und nun kommt
meine Gesangsnummer.
Ich stehe oben und blicke über all die Menschen hinweg, ich sehe sie
nicht! Gerade in den Himmel hinauf geht mein Blick, und nun erklingt eine
Händel - Arie: "Gewähre, o Herr, dass an jenem Tag des Gerichts
unser Herz gereinigt werde." Wie hell meine junge Stimme über den
dunklen Akkorden schwebt, wie ahnungslos meine Lippen die angstvollen Worte
sprechen: "Herr, erbarme dich, ach, erbarme dich über uns." -
Das Konzert ist zu Ende. Als wir heimgehen, sind die Vettern von einer
unbeschreiblichen Ritterlichkeit, nicht nur meine Noten wollen sie tragen, sie
überbieten sich in ehrerbietigen Aufmerksamkeiten, der Friede ist
geschlossen, das Kriegsbeil begraben. Aber ich darf nicht ins Haus, ich werde
in die Küche gesperrt. Nun kommt Onkel, nimmt mich an der Hand und
führt mich vor die verschlossene Tür des Saales. Er öffnet sie -
mitten im verdunkelten Zimmer steht ein strahlender Weihnachtsbaum mit Lichtern
geschmückt, und ein Chorgesang erklingt: "O du fröhliche, o du
selige . . . "
Ja, es ist Weihnachten, mitten im Sommer. Onkel hält eine Rede: "Du
sollst etwas Besonderes haben", sagt er, "denn du hast uns heute
besonders froh gemacht mit deinem Singen. Zum wirkliche Weihnachtsfest im
Winter konntest du ja nie hier sein, darum sollst du heute einen Weihnachtsbaum
haben. Das hat der Heiland uns nicht verboten. Wenn wir uns nur in ihm
freuen." Er nimmt mich an der Hand und führt mich zu einem
Gabentisch. Jeder hat etwas geschenkt. Jubel und Lachen erfüllt den
großen Raum, alles drängt sich um mich; jeder preist sein Geschenk,
zeigt es, legt es mir besonders ans Herz. Von Onkel ist ein kleines
Kästchen von Silberfiligran da, was er ein "Rokoko" nennt.
Alles, was ihm in der Form irgendwie auffällt, nennt er "ein
Rokoko".
Cousine Jenny schenkt mir einen goldenen Ring, sie ist manchmal etwas
leichtsinnig.
"Sie hat ihn auf "Puff" genommen", schreit Vetter Georg,
"ich weiß es ganz genau, denn sie hat gar kein Geld."
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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